Schlagwort: Wetter

ELVIS (…und Barschel leben!)

Inspiration:

Eine Dienstreise nach Mecklenburg Vorpommern und eine Hommage an Dirk Bach, dem ich das „Jungelcamp“ verzeihe…

„Elvis“

Ich bin auf der Fahrt Richtung Meer, manchmal verschlägt es mich tatsächlich auch dahin, wenn es mein Beruf von mir verlangt. Ostsee, kurz vor Usedom, das hört sich doch gut an. Die Fahrt beschert mir 9 Stunden zähes Vorankommen bei scheiß Wetter, es regnet junge Hunde.

Ah, da haben wir es ja wieder, unser Lieblingsthema, das Wetter. Darüber könnte ich stundenlang schreiben. Vor allem nach diesem merkwürdigen Sommer, dieser Ausgeburt des von uns Menschen verursachten Klimawandels, so die Meinung der zahlreichen Möchtegern-Umweltaktivisten an Bushaltestellen, Bürofluren oder in Internetforen, den Klagemauern unserer verlogenen Gesellschaft.

Unsinn, das glaube ich nicht! Ich bin davon überzeugt, diese unberechenbaren Wetterkapriolen sind gesteuerte Rache-Attacken Jörg Kachelmanns, jenem von der Öffentlichkeit verstoßenen Isobaren-Gurus, der seinerzeit als mittelloser Penner unter einer Brücke die geniale Idee hatte, den Leuten täglich kurz vor der Tagesschau zu verklickern, wie denn das Wetter heute gewesen ist und wie es möglicherweise morgen sein könnte, ohne irgendeine blasse Ahnung davon zu haben. Damit machte der Kerl mit seinem Team angetrunkener Meteorologen Millionen, ohne es auch nur für nötig zu empfinden, sich mit der Kohle neu einzukleiden, um uns stattdessen als allabendlich unrasierte Vogelscheuche zu bequatschen. So wie heute seine Kollegin und Nachfolgerin Claudia Kleinert, die allerdings deutlich besser bekleidet das nun vorrangig männliche Fernsehpublikum systematisch lasziv in die Irre führt, und dafür auch ein granaten Gehalt bekommt.

Verdammt, ich will nicht wissen, wie das Wetter heute war, ich will wissen, ob ich morgen `ne Jacke brauche oder nicht! Gerade jetzt in dieser Zeit der sogenannten Übergangsjacken, also derer, die man nirgendwo zu kaufen bekommt, weil Kaufhäuser ja nur Sommer oder Winter kennen und ohnehin nicht getragen werden, weil sie grundsätzlich entweder zu dick oder zu dünn sind. Die nerven einfach nur tierisch. Insofern kann ich das nicht existierende Angebot solcher Jacken gut nachvollziehen. Sie machen einfach keinen Sinn, obwohl irgendwie alle darüber reden, und das ganzjährig.

Zu Recht ihr Lieben, es ist die Zeit des Übergangs. Zieht euch warm an!

Sei es drum, angesichts der noch vor mir liegenden 830 km bei Stau und Sturzregen sinkt meine Laune auf den Nullpunkt. Schreibe meiner Kollegin eine SMS in der Hoffnung auf eine aufmunternde Antwort, erhalte jedoch nur eine knappe Ansage, dass ihre Laune unterhalb der Nulllinie läge, weil gerade ein Trojaner auf ihrem Rechner versuche, die Firmenkonten zu plündern. Ach ja, es ist Montag, sage ich mir, der ganz normale Wahnsinn am Anfang einer Woche. Den gilt es wie immer irgendwie über die Bühne zu bekommen und ich sehe mich jetzt meiner Kollegin gegenüber in einer strategisch besseren Ausgangssituation angesichts meiner Hinreise, mehr muss ich heute nicht tun.

Schon gar nicht verzweifelt nach alten Datensicherungen suchen und befürchten müssen, dass alle Daten der letzten anderthalb Jahren über den Jordan sind, so lange hat sie wohlmöglich keine Sicherung mehr gemacht. Ich übrigens auch nicht, also schreibe ich mir via IPhone eine Mail mit den Betreff „DASI !!!!!!!“ und checke bei der Gelegenheit mittels einer meiner drei Wetter-Apps, wie denn das Wetter in Jerusalem ist. Da regnet es auch.

Gegen 18:30 Uhr verlasse ich die Autobahn in Richtung Bömitz, einem menschenverlassenen 50-Seelendorf unweit von Anklam. Dort habe ich mir mein Hotel gebucht, der Name „Rittergut Bömitz“ hat mir irgendwie gefallen. Letzteres liegt derart abgelegen, dass es einem unheimlich wird. Wenn ich jetzt auf dieser unbeleuchteten kilometerlangen Kopfsteinpflaster-Straße mit Achsenbruch liegenbleibe, hab ich echt ein Problem. Handyempfang gibt’s hier nicht. Doch alles geht gut, und um Punkt sieben bin ich an meinem Ziel.

Das Hotel ist ein für die Gegend typisches altes Landadel-Gutshaus, gelegen in einem wunderbaren und von hohen Steinmauern umringten Park. Alles ist hell erleuchtet und das mondän wirkende große Haupthaus beeindruckt mich zu tiefst. Damit hätte ich in dieser gottverlassenen Gegend nicht gerechnet. Auf dem Parkplatz finde ich glücklicher Weise noch eine Lücke zwischen einem gigantischen schwarzen Dodge-Pick Up und einem alten Wohnmobil, beklebt mit einem großen Jim Morrison-Konterfei und der Aufschrift „Indians scattered on dawn’s highway“. Überhaupt, der ganze Vorplatz ist voller Luxusschlitten, Oldtimern und überlangen Tour-Bussen. Hinter den Parkplatz befinden sich die zu einem Ballsaal umgebauten alten Pferdestallungen, aus dem laute Musik erschallt. Ich wage einen Blick durch eines der zahlreichen kleinen Fenster und erkenne die Silhouette eines Amy Winehouse-Doubles, die sich stimmlich vom Original in keinster Weise zu verstecken braucht. Sensationell! Der Saal tobt, lacht, tanzt, ist rauchverhangen. Die Türen sind verschlossen und verriegelt, offensichtlich erwünscht diese geschlossene Gesellschaft keinerlei ungebetene Gäste.

Ich kann es kaum glauben und frage verwundert an der Rezeption im Hauptgebäude, was denn bitte hier los sei. Die Dame hinter dem Tresen schaut mich verwundert an, fragt mich nach meinem Namen und sucht diesen vergeblich auf einer Liste mit schätzungsweise hundert Einträgen, offensichtlich die Teilnehmerliste jener Feiergesellschaft im Ballsaal. Ich halte ihr mein Passbook-HRS Ticket unter die Nase und sie nickt erleichtert. „Ach Sie sind das, der Hotelgast. Da hatten sie aber Glück…das letzte Zimmer…“ Seit wann arbeitet denn Romy Schneider an einer Hotelrezeption? Frappierend, diese Ähnlichkeit, mir wird’s warm ums Herz! Aber nur kurz, denn als ich mich umdrehe, erkenne ich Kurt Cobain, der mir grinsend einen gönnerhaften Blick zuwirft und die Lobby in Richtung Stallungen verlässt. Der war wohl kurz mal auf dem Zimmer. Kleinlaut frag ich Frau Schneider, was es denn zu feiern gibt. „Ein neues Mitglied im Kreise der Aussteiger, derer, die ihr für tot haltet.“

Ich brauche Urlaub, dringend! Gehe auf mein Zimmer, meines heißt „Balkonstube“, die wunderbaren Suiten haben keine Nummern. Mir gegenüber liegt eine namens „Beau-Rivage“.

Ich wusste es: Barschel lebt!

Mein Abendessen wird mir im Restaurant serviert, ich bin völlig alleine. Auch mein Frühstück verbringe ich in dieser herrlichen Ruhe. Ich habe gut geschlafen, fühle mich erholt. Auf dem Parkplatz steht nur noch mein Auto, Romy ist weg. Eine junge Frau bringt mir den Kaffee und sie gleicht keiner Unsterblichen, ich bin beruhigt. War ganz schön kalt draußen, als ich zuvor meinen Koffer ins Auto bringe, mach ich immer, bevor ich zum Frühstück gehe.

Denke an Übergangsjacken. Im Feuilleton des Greifswalder Tageblatts ist ein hölzerner Grabstein abgebildet, gestern wurde Dirk Bach beerdigt. Irgendwie wird er mir fehlen. Schaue verträumt in die romantische Parkanlage und entdecke den schwarzen Ami-Pick Up. Mein Herz schlägt bis zum Hals.

„Summer is Coming“.

Es ist der 16. Oktober 2012.“ Wer´s glaubt, wird selig…“ antworte ich dem alten Mann in der Lobby in seiner speckigen weißen Lederjacke und der schmuddeligen Schlaghose mit Glitzerborde, der mir verschmitzt zublinzelt und sich dann seiner Wetter-App zuwendet. „30 degrees in Tennessee…“

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PAUSCHABLES LEBEN (Teil 1…)

Inspiration:

Eine Urlaubsreise nach Lanzarote…

 

 

„Pauschables Leben“ (Teil 1)

Verzweifelt hauchte Gott dem Meer seine heilende Energie ein. Dann erbaute er ein paar Appartement-Hotels mit SAT-TV auf den Hügeln kleiner Inseln, erfand das Bananenboot, Neckermann und die TUI und machte sich für immer aus dem Staub…

Prolog

Immer wieder überkommen mich tiefe Selbstzweifel gegenüber meinem Vorhaben ein Buch zu schreiben, um damit endlich meinen finanziellen Durchbruch zu erreichen. Nachdem wir uns aber letzte Wochen spontan dazu entschlossen, mein Restvermögen einem Düsseldorfer Reiseveranstalter zu überlassen, bin ich nun doch sehr motiviert. Und die Rahmenhandlung meines Werkes hab ich jetzt auch, eben diese Reise.

Davon abgesehen freue ich mich auch auf den unverhofften Very last Minute Trip! Einfach loslassen, verreisen und ein bisschen schreiben. Das muss jetzt sein, sonst geht die Reise wohlmöglich woanders hin.

Urlaub ist die Zeit des Ver-Arbeitens. Was mich betrifft, sind es die Mühen des letzten Jahres, in dem ich in meiner Tätigkeit als Unternehmensberater sehr vielen kleineren Unternehmen in ihren betrieblichen Belangen behilflich war. Diese dankbare, doch auch sehr aufreibende Tätigkeit ist eng verbunden mit meiner zweiten Tätigkeit als Coach, bei der es um die respektvolle Begleitung einzelner Menschen geht. Als nichtwissender, interessiert fragender Zuhörer und Beobachter gebe ich ihnen dabei Raum, sich selbst zu strukturieren, um Lösungen zu ihren Problemen und Nöten zu finden. Darin liegt mein eigentliches Talent, die Kunst des Nichtwissens  und Zuhörens beherrsche ich ausgesprochen gut.

Über die Jahre bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass ausnahmslos jeder Mensch über eine Vielzahl an Stärken und Ressourcen verfügt, die ihn dazu befähigen, Krisen selbständig zu meistern und Gutes zu bewirken.

Diese grundsätzlich positive Veranlagung eines Jeden scheint jedoch zunehmend an Bedeutung zu verlieren, sobald  sich dieser in die Gemeinschaft anderer begibt. Angefangen von Lebensgemeinschaften und Familien, über Arbeitsgemeinschaften in Betrieben und Konzernen, vor allem aber im globalen gesellschaftlichen Zusammenspiel herrscht offensichtlich die Meinung vor, dass Offenherzigkeit, Toleranz und Vertrauen die eigenen Vorstellungen und Wahrheiten in Gefahr brächten. Und so kommt es, dass man sich zu verschließen beginnt, um letztlich in Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit zu versinken.

Besonders das Zusammentreffen unterschiedlicher Gesellschafts- und Kulturformen erweist sich oftmals als – sagen wir mal – eher problematisch, wie es die Geschichte der Menschheit immer wieder gezeigt hat. Wahrscheinlich hat es sich Gott etwas anders vorgestellt, als er ihr nach getaner Schöpfung die Erlaubnis erteilte, sich der Erde zu ermächtigen. Musste er doch ansehen, dass dies bis heute doch nicht so reibungslos verläuft wie er sich das vielleicht erhoffte. Und es mag wohl langsam eng werden mit seiner Geduld, sollte er die Eskalationen der letzten Zeit verfolgt haben.

Kurz gesagt: der gesellschaftliche Mensch verhält sich oft merkwürdig, und auch davon handelt meine Erzählung.  Einzig Hoffnung machen da die Menschen, denen es gelingt, sich den Einflüssen dieser zweifelhaften Gesellschaften oder den Suggestionen ihrer geistigen und politischen Patriarchen zu entziehen. Meist belächelt und am Rande stehend verlieren sie eben nicht jenen Zugang zu ihren inneren Schätzen, die sie selbstlos zum Wohle anderer und der Natur einsetzen. Die Strahlen ihres Lichtes sind die seidenen Fäden, die unsere vom Verfall bedrohte globale Welt noch irgendwie zusammenhalten.

Ich betrachte es als Geschenk, solchen Engeln zu begegnen, auch wenn dies mit der schmerzlichen Offenbarung meiner eigenen Schwäche und Zerrissenheit verbunden ist. Ihnen widme ich diese Geschichte, die auf wahren Begebenheiten und Beobachtungen beruht.

Wahrheit, was heißt schon Wahrheit?

Jedenfalls wahr ist, dass Morgen Mittag unser Flug ab Frankfurt geht. Meine Frau packt seit zwei Tagen fanatisch die Koffer, wie immer viel zu viel. Ich trage meinen Krempel zusammen, eigentlich nur Ladeadapter, Ersatzbrille und ein kleines Radio fürs Badezimmer. Meine iPod-Kopfhörer rette ich noch im letzten Moment ins Handgepäck, die Billighörer im Flieger taugen nichts.

Ich stehe wie immer im Wege, also wasche ich nochmal mein Auto und bringe das Leergut weg. Eine wirklich gute Idee, verbessert dies doch merklich die Urlaubskasse. Im Briefkasten ist auch keine Rechnung und ich nehme mir fest vor, dort definitiv keinen Blick mehr reinzuwerfen. Die Mülltonnen sind sortiert, der Rasen ist auch gemäht!

So kurz vor einem Urlaub lade ich meine Leute zu einem Abendessen bei unserem griechischen Freund Vic ein. Der verweigert uns prompt den sonst üblichen zweiten Ouzo als wir ihm gestehen, dass wir nicht nach Chalcidici fliegen, womit er uns schon das ganze Frühjahr in den Ohren liegt. Nein, es geht nach Lanzarote, der Zufall wollte es so.

Wir betäuben die aufkommende Flugangst mit billigem Macedonica und reden lieber über unsere Vorfreude. Immerhin fliegen wir mit der Condor, da gibt’s was zu essen und man kann Filme schauen. Mein großer Sohn Linus wünscht sich „Cast Away“, in dem sich Tom Hanks als einzig Überlebender einer grandios verfilmten Flugzeughavarie auf eine Insel rettet und sich die nächsten Jahre mit einem Fußball unterhalten darf. Ich plädiere für „Dante´s Peak“, auch nach einer geglückten Landung kann ja eine Vulkaninsel plötzlich von der Landkarte verschwinden, da will man gut vorbereitet sein.

Ich bin sehr müde. Die Strapazen der letzten Monate haben meinen Körper in perfekte Bikini-Maße geformt, gebe bestimmt ein mörder Bild am Pool ab. Die Haare hab ich schön und die oberen Extremitäten sind passabel vorgebräunt. Jetzt noch die Beine rasieren und die Fußnägel trimmen, dann kann’s losgehen.

Habe recherchiert, dass der Urlaubsort und unser Club fest in englischer Hand seien. Wenigstens keine Sandalen mit weißen Socken! Vielleicht lass ich mich noch schnell tätowieren. Ich dachte so an „Stella for free!“ auf den Nacken, immer gut sichtbar, auch wenn ich abends im Manchester United-Trikot zum Buffet schluffe und mir den Teller mit ordentlich frittierten Zeug volllade. Die werden mich bestimmt schnell in ihr Herz schließen…

Erster Teil

Departüre

Frühstart

Auch wenn ich Verreisen gewohnt bin, erwache ich nervös und angespannt aus meinem traumlosen Schlaf, als der Wecker um 05:15 Uhr klingelt. Während meine Frau Claudia in stoischer Ruhe duscht, quäle ich mich aus den Federn und organisiere Essbares für unser vorerst letztes mitteleuropäisches Frühstück.

Ich bin eigentlich kein Frühaufsteher. Im Gegenteil, ich habe einen Großteil meines Lebens verschlafen, statt die himmlische Stille früher Morgenstunden zu genießen, bevor die Stadt in hektischer Betriebsamkeit erwacht. So laufe ich durch eine menschenleere Fußgängerzone und erlebe den wahrscheinlich ruhigsten und friedlichsten Moment meines Urlaubes. Meine Lieblingsbäckerei ist bereits geöffnet und erwartet mich gut vorbereitet, es duftet wunderbar. Die Verkäuferin schaut mir wehmütig hinterher, als ich mich mit einem „Leben Sie wohl!“  von ihr verabschiede.

Am Frühstückstisch meldet sich meine innere Unruhe wieder, als ich im fast militanten Tonfall den Zeitplan verkünde:

„PUNKT 07:45 MUESSEN wir im Auto sitzen, ICE zum Flughafen geht um PUNKT 8:36 Uhr und duldet keinerlei Verspätung!“

Als Sohn eines Studiendirektors a.D. bin ich zur absoluten Pünktlichkeit verpflichtet. Seine natürliche Autorität hingegen blieb bei mir eher unterentwickelt. Vor der Bundeswehr hatte ich mich seinerzeit erfolgreich gedrückt, vielleicht hätte mir ja eine Wehrzeit dahingehend gut getan. Statt dem erwarteten „Sir, Yes Sir!!“ gähnt mir Sohn Linus ein müdes „jupp…“ entgegen und meine Frau kommentiert meine Anweisungen mit „Mach mich nicht nervös!“. Zudem ist sie der Meinung, dass unsere Zugtickets für einen ICE ungültig seien:

„Da steht nichts drauf von ICE…“

Wer macht hier wen nervös? Besorgt stopfe ich noch einen Ersatz-Reiseadapter in den letzten noch nicht verschlossenen Koffer, das beruhigt mich irgendwie. Noch 13 Minuten bis zum Lift off. Linus sucht eine Haarbürste. Zu spät, die ist im Koffer. Ich versuche ihn zu trösten, während er verzweifelt seine lange Lockenmähne mit den Fingern zu ordnen versucht. Derart frisiert sieht er in seinem Motörhead T-Shirt wirklich aus wie Ozzy Osbourne in einer NASA-Zentrifuge. Meinen hingegen perfekt frisierten kleinen Sohn Jonah befreie ich danach aus dem Gewirr seiner Kopfhörerkabel, in denen er sich hoffnungslos verheddert bei dem Versuch, sich einhändig die Schuhe zuzubinden.

Claudia kündigt einen weiteren Toilettengang an, das kann dauern. Meine Nerven sind am Anschlag, sie verschwindet wortlos ins Bad und taucht nach exakt 10 Minuten mit nachdenklicher Mine wieder auf:

„Ich hab bestimmt was vergessen…“

Bin mir sicher, dass meine Frau nichts vergessen hat, nachdem ich das Gepäck ins Auto verladen hatte und mir dabei fast einen Bruch hebe. Die zulässigen 20 kg pro Koffer sind garantiert um das Doppelte überschritten, hoffentlich packt das der Flieger.

Wir verlassen endlich das Haus, ich starte den Motor und wage einen Blick auf die Uhr: 8:46! Als Kommandeur eines Atomwaffen-Stützpunktes hätte ich jetzt den Krieg vermasselt.

Sonja erwartet uns ein paar Straßen weiter. Sie ist Claudias beste Freundin und hat sich bereit erklärt, meinen Wagen vom Bahnhof zurückzufahren und sich um unseren neurotischen Wellensittig Lucy zu kümmern. Während der kurzen Fahrt beobachte ich ängstlich die Reifendruck-Kontrolle meines Wagens angesichts der Tonnen im Kofferraum. Sie verhält sich unauffällig. Ist bestimmt kaputt, lass ich bei der nächsten Inspektion checken.

So erreichen wir unbeschadet den ICE-Bahnhof, verabschieden uns von Sonja und besteigen nach kurzer Wartezeit den äußerst pünktlichen Zug Richtung Frankfurt Flughafen, der keinerlei Verspätungen duldet.

Vergessenheit

Ab jetzt überlasse ich der Schöpfung vertrauensvoll den restlichen Verlauf unserer Anreise. Zuvor jedoch bringe ich einen der zahlreichen Mitreisenden in akute Lebensgefahr bei dem Versuch, den kleinsten und vermeintlich leichtesten Koffer in das über ihn befindliche Gepäckfach zu wuchten. Unter den angespannten Blicken der Abteilgäste gelingt mir dies schließlich im dritten Versuch. Ich bedanke mich für den einsetzenden Applaus, werde aber wegen eines Fußfehlers von den anwesenden Kampfrichtern disqualifiziert und bin somit gezwungen, das restliche Gepäck auf dem Gang zu deponieren.

Die Jungs suchen sich ihre Sitzplätze selbstständig, ich lasse mich entkräftet auf die nächst erreichbare Sitzreihe fallen und winke nach meiner Frau. Die korrigiert meine spontane Platzwahl, rücklings zur Fahrtrichtung verursacht bei ihr starke Übelkeit, außerdem erscheint ihr das Fenster zu klein. Kinder und Gepäck außer Sichtweite sitzen wir endlich in einer ihr genehmen Reihe und nach guten 5 Minuten normalisiert sich meine Atmung. Puls und Blutdruck bleiben jedoch weiter hoch, da Claudia den Rauswurf bei nächstem Halt ankündigt, die Zugtickets sind ja für einen ICE ungültig. Ich stelle mir das jähe Ende unserer Reise auf dem Bahnhof Montabaur vor, bis uns eine hübsche Schaffnerin erlöst und uns eine gute Weiterreise wünscht.

Das Universum meint es gut mit uns, denke ich. Dankbar lehne ich  mich zurück, als wir den Bahnhof des Schreckens zu Montabaur passieren und krame mein Smartphone aus der Hosentasche. Ich verbinde mich mit dem im Zug verfügbaren WLAN, um letztmalig meine Emails zu checken. Nichts Wichtiges im Posteingang, außer eines Dankschreibens der Firma Amazon mit anliegender Rechnung über zwei Reise-Ladeadapter samt USB-Kabel und einem batteriebetriebenen Nasenhaar-Schneider.

Logout. Die Welt müssen jetzt andere retten, ich habe Urlaub. Ich schaue mit Fernweh aus dem großen Zugfenster in die verregnete Tristesse der vorbeifliegenden Taunuslandschaft, setze mir die Kopfhörer auf und starte den für diesen Moment eigens ausgewählten Song „Sail Away“ von The Rasmus. Mein Lebenstraum ist es, einmal auf einem Segelboot die Lichter der Zivilisation hinter mir verschwinden zu lassen um mich auf die Suche nach der eigentlichen Wahrheit zu begeben, deren Träger ich irgendwo in der unendlichen Weite des Meeres vermute. Vielleicht hält er sich ja da versteckt, und hoffentlich nicht in der sauerstoffarmen Höhe der Berge. Ich mag die Berge nicht, die sind mir zu steil und machen mich depressiv.

In der Sitzreihe neben uns lehnt ein im grauen Anzug gekleideter junger Mann über seinem IPad und betrachtet mit Entsetzen die derzeitigen Börsenverläufe. Ich vermute, es handelt sich bei ihm um einen der vielen in Frankfurt arbeitenden Banker oder Wertpapierhändler, die gerade feststellen müssen, dass ihr Handel mit griechischen Staatsanleihen doch keine so gute Idee war und es jetzt bitter bereuen, zu viel Solitär gespielt zu haben, statt aufmerksam die Wirtschaftspresse zu verfolgen. Während er aufgeregt beginnt, seinem Abteilungsleiter einen verzweifelten Erklärungsversuch zu mailen, betrachte ich seine tief abgekauten Fingernägel, die auf große innere Nervosität deuten. Der Kerl tut mir irgendwie leid, könnte dieses Jahr eng werden mit seiner Erfolgs-Prämie. Ein ihm bekannter Kollege kommt mit einem Rasierapparat in der Hand aus der Zugtoilette und versetzt die Luft des Wagons mit aufdringlichem After Shave-Geruch. Er setzt sich neben ihn und vermittelt mir einen ähnlich angespannten Eindruck, als sich beide über die zusammenbrechenden Finanzmärkte zu unterhalten beginnen.

Es ist schon sehr beunruhigend für diejenigen, die bisher glaubten, Geld vermehre sich von alleine und nun zu ahnen beginnen, dass sie ihr gieriges und gefährliches Spiel mit dieser Illusion verlieren werden. Offensichtlich ist die Zeit gekommen, in der sich diese und auch so mach andere Scheinwirklichkeit unserer Gesellschaft endgültig auflösen werden.

Claudias mittelschwerer Ellenbogenhieb in meine Rippengegend bringt auch mich zurück in die Realität, erschrocken starre ich in ihre weit aufgerissenen Augen.

„Jetzt weiß ich, was ich vergessen habe!!“

Hecktisch nestele ich mir die Hörer aus den Ohren und erwarte erneut das Ende unserer Reise.

„Deine Schuhe!!“

„Wieso, ich hab doch welche an…“

„Nein, deine grünen Chucks! Deine hässlichen Treter…“  – damit meint sie meine Lieblingsturnschuhe, die ich mir eine Nummer zu klein gekauft habe weil es sie in meiner Größe nicht mehr gab – „…kannst du unmöglich zu den Shorts anziehen, wie sieht das denn aus?!“

„Na dann kaufen wir halt neue vor Ort, da gibt´s bestimmt Schuhläden…“

„Nein, ruf schnell Sonja an, die soll die Schuhe ins Hotel schicken!“

„Wie jetzt, unser Hotel liegt kurz vorm Äquator, bis die da sind, ist Weihnachten! Das ist doch wohl nicht dein Ernst?!“

Unserem Dialog folgt ein kurzes betretendes Schweigen, während mich meine Frau mustert.

„Sach mal, du musst dir unbedingt die Nasenhaare schneiden, sieht ja schlimm aus!“

Ein Fahrgast nickt zustimmend.

„Weiß ich, dafür hab ich mir ja den Nasenhaarschneider gekauft.“

„Was für ein Nasenhaarschneider? Hab ich keinen gesehen, hättest du mir raus legen müssen.“

Stimmt, hab ich vergessen, aber die Ersatz-Batterien sind definitiv im Koffer. Stelle mir vor, wie ich bei unserer Ankunft im Hotel in meinen viel zu kleinen und ewig drückenden Schuhen über meine Nasenhaare stolpere und samt Koffer in den Pool stürze…

Die Kabinenlautsprecher verkünden unterdes die baldige Ankunft am Flughafen, man solle bei Bedarf in Fahrtrichtung rechts aussteigen. Ich melde Bedarf an und steuere schnappatmend und entschlossenen Blickes meinen auf der Ablage verstauten Koffer an. Der schon genannte Mitreisende rettet sich mit einem beherzten Sprung auf den Mittelgang, während ich mich von der Last des Koffers mit in die Tiefe reißen lasse. Wir helfen uns gegenseitig auf die Beine, klopfen uns gegenseitig den Staub von den Schultern und der freundliche Herr wünscht mir für meinen weiteren Lebensweg alles erdenklich Gute.

Der Ausstieg gelingt mir mit Hilfe meiner Familie erstaunlich gut. Unser ICE setzt buchstäblich erleichtert seine Reise fort, während ich nachdenklich die steilen Rolltreppen in Richtung Terminal 1 betrachte.

Steuerfrei!

Wir schleppen uns den Gang entlang Richtung Check In. Wenn ich das hier ohne Herzinfarkt überstehe, erbaue ich eine Kapelle und ändere von nun an mein ungesundes Leben. Habe vom meinem Vermieter den Tipp bekommen, dass es gleich rechts vor dem Eingang zu Terminal 1 einen kleinen Check In von Lufthansa und der Condor gibt. Ich lotse uns dort hin, nur wenige Reisende stehen an und nach nur kurzer Wartezeit stehe ich mit gezückten Papieren und Tickets vor dem Tresen, an dem mich eine nette Mitarbeiterin nach unserem Reiseziel befragt.

„Lanzarote, vier Personen!“

„Wie viele Gepäckstücke?“

„3…“

Sie fordert mich auf, diese nacheinander aufs Band zu stellen. Den Größten bitte als Ersten. Die Waage zeigt 20,5 kg an. Hab ich doch gesagt!

Wir erhalten die Bordkarten mit eingekringeltem Hinweis auf Ausgang B02 mit der dringenden Bitte, dort bis spätestens 10:50 Uhr zu erscheinen.

Na, das war ja einfach! Die Koffer verschwinden hinter einer Wand, während meine Frau Bedenken äußert, ob wir die denn jemals wiedersehen:

„Woher wissen die denn, in welches Flugzeug die gehören?“

„In das nach Lanzarote, hab´s denen gesagt.“

„ Am Schalter stand aber nichts von Lanzarote.“

„…aber hier auf den Bordkarten!“

„Na wenn das mal gut geht…“

09:34 Uhr, genug Zeit für die Sicherheitskontrolle und einen Kaffee. Während Claudia und die Jungs auf dem Klo verschwinden, google ich auf meinem Smartphone den Begriff „Kapellenbau“.

Lässig schlendern wir durch das riesige Flughafenfoyer entlang zahlloser Schlagen wartender Flugreisender. Die betriebsame Hektik stört mich jetzt nicht mehr, ich beginne mich zu entspannen. In den Edelboutiquen versorgen sich neureiche Damen noch schnell mit Chanel-Kostümen und Dolce & Gabbana-Handtaschen, die sie offensichtlich zu Hause vergessen haben. Meine Turnschuhe drücken wie blöde.

Die Sinnhaftigkeit eines Lederwarengeschäftes auf einem Flughafen erschien mir bislang so zweifelhaft wie die einer Tauchschule auf dem Matterhorn. Welcher normalveranlagte Flugreisende kauft sich um Himmels Willen denn gerade hier einen neuen Koffer? Bestimmt nicht die ankommenden Reisenden, die nach ihrer Landung froh sind, pünktlich ihr Gepäck von den Bändern zu fischen um anschließend fluchtartig das Flughafengelände Richtung Heimat zu verlassen. Und jeder Abfliegende betritt doch das Terminal mit einer Vielzahl penibel gepackter Koffer und Reisetaschen in der Absicht, diese möglichst schnell an den Check In Schaltern wieder los zu werden. Tatsächlich aber fühlen sich viele nach der Gepäckaufgabe derartig beraubt, dass sie sich umgehend im Vollsortiment der riesigen Bekleidungs- und Schuhgeschäfte neu einzukleiden beginnen. So erklärt dieses abnorme Konsumverhalten die Existenzfähigkeit der sündhaft teuren und exquisiten Flughafenläden, so auch die besagter Kofferhändler. Sie dürften ihren Kunden zum Kauf eines größeren Modells raten, zumal deren Reise ja gerade erst begonnen hat und garantiert noch viele Kaufrauscherlebnisse bieten wird. Die Kaufsucht der in unserer Überflussgesellschaft lebenden Menschen kennt keine Auszeit, im Gegenteil, gerade im Urlaub gelangt sie ungebremst zu  ihrem Höhepunkt.

Hoffentlich ist im Handgepäck noch etwas Platz, die Einkaufsmeile setzt sich auch hinter der Sicherheitskontrolle fort. Vor ihr entsorge ich vorschriftsgemäß zwei Flaschen mit Flüssigsprengstoff in den dafür eigens aufgestellten gelben Tonnen. Dann werden wir aufgefordert, unser Handgepäck, Jacken und alles in unseren Hosentaschen befindliche in Plastikkisten zu verstauen. Armbanduhren, Armbänder und Gürtel auch. Derart entkleidet stolpere ich mit fast heruntergelassenen Hosen durch den Metalldetektor, nichts piept und ein mit Plastikhandschuhen ausgestatteter Sicherheitsbeamter überlässt die weiteren Untersuchungen meinem Urologen. Claudia und Linus passieren ebenfalls problemlos. Nur Jonah´s metallenes Sonnenbrillen-Markenimitat sorgt für helle Aufregung, als er mit ihm auf dem Kopf durch den Scanner läuft. Das Teil muss genauer untersucht werden, also wieder zurück, ab in die Kiste und nochmal durch. Die anschließende Sprengstoffanalyse der Brille und unserer übrigen Sachen bleibt jedoch ohne Befund.

Sicherheitskontrollen machen mich immer wahnsinnig nervös und ich bin unglaublich erleichtert, als wir den Bereich unversehrt passieren dürfen. So gefreut hab ich mich zuletzt bei der Bekanntgabe meines bestandenen Abiturs 1983, war damals ´ne knappe Angelegenheit. Seinerzeit eröffneten sich mir die Pforten zur Universität, so wie jetzt die Türen der geradezu heiligen und steuerfreien Abflugzone, dem wahren Tor zur weiten Welt.

10:01, noch knapp eine Stunde vor Boarding Time. Wir gönnen uns einen Kaffee und eine Sprite, die sich preislich vor den Getränken auf dem Markusplatz zu Venedig nun wirklich nicht verstecken müssen. Claudia fragt mich, ob ich den Duty Free Shop gesehen hätte. Der befindet sich eine Ebene tiefer direkt unter Klein Venedig. Mit einem geschickten Täuschungsmanöver hatte ich kurz zuvor meine Frau von ihm ablenken können, indem ich laut hustend ihr Blicke solange auf mich zog, bis die aufsteigende Rolltreppe Richtung Ausgang B02 den Konsumtempel verschwinden ließ.

„Nee, hab ich nicht gesehen, der muss irgendwo im Untergeschoss sein. Aber wir müssen sowieso in  20 Minuten zum…“

Meine Frau stürzt die Rolltreppen runter, ich hinterher, während ich erneut meine verpasste Offizierslaufbahn bereue. Etwas später stehe ich völlig genervt zwischen den Regalen steuerfreien Luxusartikel und schaue ängstlich auf die Uhr, noch 14 Minuten. Claudia beschnüffelt ihre mit Edelparfum besprühten Handgelenke und an den Kassen lassen die Boutique-Schicksen letztmalig ihre Kreditkarten glühen, bevor es in den Flieger geht.

„Wir müssen jetzt endlich los“, sage ich im angestrengt ruhigen Ton.

„Hier, das ist gut!“

Claudia verpasst mir eine ordentliche Ladung Joop Splash für wahnsinnig billige 85 Euro die Flasche, bevor ich sie und die Kinder aus dem Laden zerre.  Claudia riecht bis zum Gate unentwegt an mir rum und kommt schließlich zu dem Urteil, dass das Zeug doch irgendwie stinkt. Find ich auch.

Na prima, jetzt riech ich auch noch wie ein toupierter Pudel! Der unbeabsichtigte Sturz in den Hotelpool erscheint mir nun als durchaus sinnvoll.

„Bist du dir sicher, dass das der richtige Ausgang ist?“

„Wieso?!“

„Na auf den Karten steht B2, das hier ist Ausgang B02!“

„Entspann dich, ich bin mir sicher…“

Die Maschine ist aufgerufen, vor uns eine lange Schlange Lanzarote-Fliegender. Um Claudias Flugangst zu mildern, schlage ich ihr eine kleine hypnotherapeutische Phobie-Übung vor, die ich in meiner Ausbildung zum systemischen Coach erlernt habe. Soviel Zeit muss sein. Dabei versetzt man seinen Klienten in eine leichte Trance, in der dieser über seine Angst redet, während der Therapeut zwei Punkte in dessen linken Handinnenfläche sanft drückt, etwa da, wo Herz- und Lebenslinie zusammen laufen. Dies wiederum erzeugt erstaunlich wirksame neurologische und angstlösende Impulse, die den Klienten in kürzester Zeit von seiner Phobie befreien. Hat auch bei mir wunderbar funktioniert, als ich mich damals wegen meiner Panik vor entladenen Handyakkus behandeln ließ.

So bitte ich also meine Frau, die Augen zu schließen und sich die bevorstehende Flugsituation intensiv vorzustellen. Meinen hypnotischen Anweisungen folgen auch die zwei angetrunkenen Typen hinter uns, zumindest deuten ihre schweren Blicke auf einsetzende Trance hin.

Ich drücke besagte Punkte auf Claudias linker Handinnenfläche und befrage sie mit ruhiger Stimme:

„Kannst du mir deine Ängste beschreiben?“

„Wie meinst du das?“

„Was sagt dein Körper, wo fühlst du sie?“

„Wie, im Körper, versteh ich nicht.“

„Ja, vielleicht im Bauch oder in der Brust…“

„Nee, da ist nichts, fühle nichts.“

„Nichts?“

„Nö!“

Phantastisch, sie ist geheilt, großartige Methode! Sie öffnet die Augen und schaut mich verständnislos an, ich interpretiere ihren Blick als bewundernd. Beschließe, meinen Sohn Linus ähnlich zu behandeln, der hat Angst vor Fischen, nicht unbedingt optimal bei 14 Tagen Strandurlaub. Aber da kann ich helfen! Stolz gebe ich die Bordkarten ab.

Reihe 47 A B C D, Einstieg hinten. Ein entspannter und angstfreier Flug erwartet uns.

 Spieltheorie

Ich selber kenne keinerlei Flugängste. Im Gegenteil, ich liebe die einzigartige, immer gleich anzutreffende magisch sonderbare Atmosphäre in der engen Flugzeugröhre mit der zu tiefst beruhigenden Monotonie der staubsaugerähnlichen Düsengeräusche, die multilingual geatmeten Lautsprecherdurchsagen von Pilot und Begleitpersonal, ach einfach alles!

Dass sich Menschen in Flugzeugen oft seltsam verhalten, ist den meisten vielleicht aus eigener Wahrnehmung bekannt. Kein Wunder, Fliegen gehört nun mal nicht in die Natur des Menschen, ist diese Fähigkeit doch nur Vögeln, Insekten und einigen Fischen vorenthalten. Gründe dafür sind aber möglicherweise auch klaustrophobische Angstzustände oder extreme Schuldgefühle angesichts des befürchteten kurz bevorstehenden Todes bei Jenen, die es versäumt haben, ihr Testament zu verfassen und die Dinge zu regeln, die noch zu erledigen waren. Eine fehlende Patientenverfügung ist nicht so schlimm, die nützt jetzt ohnehin nichts mehr. Aber auch das viel diskutierte Phänomen der Tomatensafttrinkerei deutet auf eine merkwürdige Verhaltensänderung mancher Flugreisender hin.

Letztere zählt ganz offensichtlich zu den wenigen noch ungelösten Fragen der Menschheitsgeschichte. Google findet hierzu tausende von Einträgen, sogar Universitäten und das Fraunhofer-Institut beschäftigen sich wissenschaftlich mit jenem Mysterium. Überhaupt, alles wird heutzutage in diesen unsäglichen Internet-Foren diskutiert und so findet man auch hier etliche geistlose Teilnehmer, die nichts Besseres zu tun haben, als sich seitenweise zu dieser Frage auszutauschen. In welcher Welt leben wir eigentlich?

Spaßeshalber habe ich dazu einmal einen völlig frei konstruierten Beitrag ins Netz gestellt, in dem ich mich ausführlich mit den erkennbaren Merkmalen eines potentiellen Flugzeug-Tomatensaft-Trinkers (FTT) auseinander setze und darin behaupte, die wissenschaftliche Relevanz meiner Theorie durch zahllose Fallstudien und statistisch auswertbare Erhebungen belegen zu können. Die Reaktionen waren überwältigend. Mittlerweile gelte ich auf diesem Gebiet als DER anerkannte Experte und ich erwarte, dass mich die Universität Wuppertal für einen Fachvortrag einfliegen lässt.

Aufgrund meines Beitrages hat sich sogar eine Gemeinschaft gegründet, die meine Theorien in einem Spiel namens „Tomatensaft-Bingo“ auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Die Regeln wurden dabei wie folgt festgelegt und sind im Internet veröffentlicht:

nachdem das Flugzeug bestiegen ist, beobachtet man die Reisenden der für den Spielenden gut einsehbaren vier Sitzreihen je drei Fluggäste einschließlich der eigenen Reihe. Der Spielende analysiert nun jeden Einzelnen nach den von mir festgelegten Kriterien und entscheidet, welche der Gruppenmitglieder ein potentieller FTT ist. Einen Punkt erhält der Spieler nur dann, wenn besagte Personen dann auch tatsächlich den Saft ordern. Eine Bestellung eines Nicht-FTT bleibt ohne Bedeutung, führt jedoch auch nicht zu Punktabzug.

Sollte keiner der Gäste Tomatensaft verlangen, ist man dennoch berechtigt, sich selber einen zu bestellen, dafür erhält man 0,5 Punkte und man muss dann nicht das Gefühl haben, ein völliger Looser zu sein. Man ist also quasi sein eigener Trost-Joker, eine in der Spiele- und Quizwelt einmalige Spiel-Komponente.

Wir besteigen einen ellenlangen Gelenkbus, der uns zur startklaren Condor bringen soll. Der Fahrer sieht aus wie ein ehemaliger Secret Service-Agent, der gefeuert wurde, weil er seinerzeit das Kennedyattentat nicht verhindern konnte. Er lehnt mit auf dem Rücken verschränkten Armen an einer Wand und wartet grimmigen Blickes, bis die letzten Handgepäckträger das Terminal verlassen haben. Claudia wechselt nochmals den Sitz, seitlich ist auch nicht so gut für ihren Kreislauf, ich beharre stur auf meiner Platzwahl.

Der Bus schlängelt sich in erstaunlichem Tempo durch startenden und landenden Maschinen, Versorgungs- und Gepäckfahrzeugen, der Verkehr auf diesem riesigen Flughafen ist unglaublich. Nach gut 10 Minuten erreichen wir die Condor, eine Boeing 757 älteren Baujahres, die teils abgeblätterten Aufschriften auf ihrem Heck deuten jedenfalls darauf hin.

Bevor ich die Maschine besteige, checke ich noch schnell den Zustand der Reifen und des Fahrwerkes und gebe dem Piloten mittels erhobenen Daumens mein Okay.

Die zwei kurz vorm Ruhestand stehenden Stewardessen und ein jüngerer nach Joop Splash riechender Flugbegleiter begrüßen uns mit aufgesetzten Lächeln und verteilen die Bild und Auto Motor Sport an lesewillige Fluggäste.

Ich führe meine Frau und die Kinder zur Reihe 47 und weise ihnen Sitz D, E und F zu, während ich am Gang auf der Nebenreihe Platz C belege. Neben mir nimmt ein südbadisch sprechendes Rentnerehepaar Platz, die ich zuvor nach recht komplizierten Verhandlungen davon überzeuge, das meine falsch zugewiesenen Sitzplätze lediglich ihren Wechsel auf die andere Sitzreihe bedeute und mit etwaigen Sanktionen deswegen nicht zu rechnen sei.

In spielerischer Leichtigkeit verstaue ich unser Handgepäck in den Fächern über unseren Köpfen und schnalle mich an. Klack!

Himmelsnähe

Kapitän Hartmut Schulte begrüßt uns an Bord seiner Maschine und freut sich riesig, uns fliegen zu dürfen. Hat bestimmt die ganze Nacht vor Aufregung nicht schlafen können. Ich spiele auf meinem IPod Solitär, die Karten liegen verheißungsvoll. Meine Frau lässt sich von meinen Söhnen in die Handhabung ihres MP3-Players einweisen, den ich zuvor akribisch mit Hörbüchern, meditativen Entspannungsübungen und leisen Musikstücken präpariert hatte. Von Flugangst keine Spur, auch nicht nach meiner Bemerkung, dass schon eine  einzige Flugente allein in der Lage sei, ein derart großes Triebwerk wie das unsrige zum Totalausfall zu bringen.

Solitär ist das einzige Computerspiel, das ich einigermaßen beherrsche. Diejenigen, die es nicht kennen, können sich jederzeit ein Bild von der professionellen Spielweise vieler Mitarbeiter in Ortskrankenkassen, Stadtämtern oder Arbeitsagenturen machen. Gewonnen habe ich die Patience schon ewig nicht mehr, aber heute fliegen die Karten wie geschmiert auf die richtigen Stapel.

Die Ansage des Flugbegleiters bittet um unseren kollektiven Beitrag zu einer reibungslosen Startvorbereitung und schlägt dazu vor, sämtliche mitgeführten elektronischen Geräte umgehend auszuschalten und uns danach in eine aufrechte Sitzhaltung zu begeben. Erkläre mich mit letzterem einverstanden, weigere mich aber inständig, bei einem derartigen Blatt meinen IPod auszuschalten. Das geht jetzt auf keinen Fall!

Während die Boeing ihre Startbahn sucht, spiele ich unentwegt weiter und versetze damit meine südbadischen Sitznachbarn in blankes Entsetzen, beide schauen mich fassungslos mit angsterfüllten Augen an. Um eine nachhaltige Traumatisierung zu verhindern, schalte ich hektisch mein Gerät aus, ohne zuvor den Spielstand abzuspeichern. Mist!

Sage sowas wie „Na, dann kann’s ja jetzt losgehen…“ zu den aufatmenden Pärchen und schaue verlegen über ihre Schultern aus dem Fenster. Dabei stelle ich mir vor,  wie mein nicht ausgeschalteter IPod die Navigationssysteme der startenden Maschine derart verwirrt, dass sich Schulte zu einer Notlandung auf dem naheliegenden Sportflughafen Montabaur genötigt sieht. Das mich dort erwartende Sondereinsatz-Kommando des Bundesgrenzschutzes bewirft mich mit Blendgranaten und überwältigt mich schließlich nach kurzem Nahkampf. Man zerrt mich in Ketten und  einer Tüte über dem Kopf aus dem Flieger, während meine zuvor evakuierte Familie kofferlos den ICE Richtung Heimat besteigen muss.

Tatsächlich aber gelingt der Start problemlos, vier Stunden Flug liegen nun vor uns. Die Bildzeitungen werden wieder entfaltet, die uns nochmals an das bevorstehende Ende der Welt erinnern, angesichts der jüngsten schrecklichen Geschehnissen, Hungersnöten und drohenden Staatspleiten. Wir Urlaubsreisende aber haben das Gefühl, als Ausgewählte in der Arche Noah sitzend dem Armageddon zu entkommen frei nach dem Motto „…ist mir jetzt auch egal!“. Dieses Verhalten beobachtete ich auch 2001, als selbst die einstürzenden Tower des World Trade Centers viele Urlauber kaum berührten, wir erlebten damals den 11. September auf Ibiza. Schultes gelungenes Startmanöver verschafft zudem ein tiefes Vertrauen auf eine sichere Landung, wir dürfen nun endlich loslassen und den angekündigten ausgezeichneten Service an Bord genießen.

Nochmals meldet sich das Cockpit, diesmal aber Copilot Marc Everts. Im dritten Lehrjahr darf er das auch mal üben, aber nicht zu lange, sonst verpasst er wohlmöglich noch, wie sein Meister mit geschickten Lenkbewegungen den uns angreifenden Flugenten ausweicht. Auch er freut sich wahnsinnig, kündigt schönes Wetter auf Lanzarote an und gibt uns den hilfreichen Tipp, die Uhren eine Stunde zurück zu stellen, damit die erwartete Landung um 15:00 Uhr bei Startzeit um 12:00 mit der errechneten Flugdauer von 4 Stunden irgendwie doch Sinn macht. Raunen geht durch den Flieger und ich helfe meinem Nachbarn, seine Digitaluhr umzuprogrammieren, was sonst immer sein Enkelsohn für ihn erledigt.

„Was möchten Sie trinken?“

„Cola light“

„Eis dazu?“

„Ja bitte…“

„Was möchten Sie trinken?“

„Tomatensaft.“

„Salz und Pfeffer?“

„Ja.“

Bingo!

„Was möchten Sie trinken?“

„Sekt!“ antworte ich mit geschwellter Brust, nachdem ich mit meiner FTT-Prognose goldrichtig gelegen habe, dreimal Saft bei den richtigen Kandidaten. Volle Punktzahl, das bedeutet Tabellenführung! Geht doch…

Service-Höhepunkt ist unbestritten das an alle Passagiere verteilte Bord-Menü, um deren Unterzuckerung zu verhindern. Derart gut umsorgt, steigt unser Grad an Entspannung weiter, einzig gestört durch einsetzenden Harndrang nach dem dritten Kaffee.

Meine Sitzreihe befindet sich unmittelbar hinter den 5 Bord-Toiletten, vor denen sich von nun an kleinere Schlangen bilden. Besonderem Leidensdruck unterliegen die zahlreichen Kleinkinder, die zappelnd an der elterlichen Hand vor den verschlossenen Türen ausharren. So auch die beiden wirklich niedlichen Zwillinge jener auffällig gebauten blondhaarigen Schönheit im hauchdünnen Chanel-Hosenanzug, welcher ihren bevorstehenden Klimawechsel in optimaler Weise begleitet. Ihre – gelinde ausgedrückt – expansive Oberweite löst ein aus paartherapeutischer Sicht gut interpretierbares Minenspiel der anwesenden Pärchen aus. Interessanterweise verlaufen dabei die Bewegungen der verlegen haschenden Blicke männlichen Betrachter zwischen Blondine und Flugzeugboden vertikal, die derer weiblichen Begleiterinnen eher horizontal im skeptisch giftigen Wechsel zwischen Busenwunder und Partner. Diese Augenbewegungen beschleunigen sich massiv, als die Mutter ihre Kinder nacheinander auf das WC setzt und ihnen schützenden Halt gewährt, während ihr ansehnlicher Hintern aus der halbgeöffneten Toilettentüre ragt.

Diesem Phänomen entziehe ich mich durch ein vorgetäuscht plötzliches Einschlafen, indem ich mir bei links verschlossenem Auge rechts blinzelnd das Spektakel betrachte. Meine große Nase bietet mir dazu ausreichend Tarnung. Von dieser Technik erhoffe ich mir auch viel für die kommenden Strandbesuche, obwohl ich mich dennoch irgendwie genau beobachtet fühle.

Dank der angeborenen Blasenschwäche der Zwillinge wiederholt sich die Szenerie zwanzigminütig und verkürzt mir die Flugzeit erheblich. Allerdings verliere ich bei meiner Frau zunehmend an Glaubwürdigkeit, da ich jedes Mal in einen unerklärlichen Tiefschlaf zu verfallen scheine, sobald sich die fürsorgliche Mutter der Toilette nähert. Deutlich geschickter verhält sich da ein anderer Mitreisender, der seiner Frau einen Bandscheibenvorfall vortäuscht und sich gezwungen sieht, die restliche Flugzeit stehend an dem etwas breiteren Mittelgang vor dem WC zu verbringen. Auch nicht schlecht!

Weniger unterhaltsam dagegen ist der gezeigte Spielfilm, eine romantische Schmonzette namens „Wedding in Rome“. Der Film wird wie in einer Werbepause auf halber Länge unterbrochen. Unser Stewart kündigt den zollfreien Verkauf diverser Güter wie Alkoholika, Zigaretten, Sonnenbrillen oder Modeschmuck an und ist sich sicher, dass für jeden von uns etwas dabei sei. Die Dame vor mir entscheidet sich für eine 189 Euro teure Armbanduhr und testet, ob ihre Kreditkarte auch in 11.000 Metern Höhe funktioniert. Ja, kein Problem. Hört das eigentlich nie auf? Man könnte hier auch den aktuellen IKEA-Katalog verteilen, ich wette, dass sich so manch kaufsüchtige Unternehmergattin spontan zum Erwerb einer neuen Sitzgarnitur entscheidet. In einem A380 lässt sich bestimmt auch gut ein Möbel-Abhollager integrieren.

Herr Schulte meldet sich nochmals kurz und bedankt sich im Namen aller Crewmitglieder für unsere Anwesenheit. Für die Sahnetorte mit Wunderkerzen ist es allerdings jetzt zu spät, da der Landeanflug auf den Flughafen Arecife bereits begonnen hat.

Die Maschine setzt sicher auf der direkt am Meer verlaufenden Landebahn auf, den anhaltenden Applaus hat er sich nun wirklich verdient. Ich krame mein Smartphone aus der Hosentasche, hatte ich vergessen auszuschalten und stopfe es panisch wieder zurück, um damit unbemerkt zu bleiben.

“Willkomme n auf Lanzarote, welcome to Lanzarote!”

Vorahnungen

Die Hinweisschilder des überschaubaren Flughafengebäudes verweisen uns zielsicher zu den Gepäckbändern, um die sich nach und nach die etwa 200 Ankömmlinge aus Frankfurt verteilen. Nach nur wenigen Minuten tauchen die ersten Gepäckstücke auf, die von ihren Besitzern erwartungsfroh vom Band gezerrt werden. Ich verstaue unsere Koffer auf einen Gepäckwagen und dank der logistischen Meisterleistung der Flughafenmitarbeiter verlassen wir bereits nach nicht einer viertel Stunde das kleine Terminal in Richtung Busbahnhof, auf dem gut 40 klimatisierte Reisebusse mit laufenden Motoren auf uns warten. Zuvor hatte uns eine freundliche Reisekauffrau mit einem in die Luft gehaltenen Schildes unseres Reiseveranstalters Bus 43 ans Herz gelegt.

Dessen Fahrer verstaut unaufgefordert unser Gepäck in den Frachtraum und kann sich angesichts derartiger Hilfsbereitschaft seines Trinkgeldes sicher sein. Jonah und Linus sichern sich die beiden Sitze ganz vorne, während meine Frau und ich noch etwas ungläubig den strahlend blauen und wolkenlosen Himmel betrachten und mit der Akklimatisierung beginnen. Es ist heiß, bestimmt gute 30 Grad im Schatten und angenehm windig. Konnten wir uns kaum noch vorstellen nach den kalten und verregneten Zeiten unseres heimischen Sommers, den uns Claudia Kleinert seit Wochen schön zu quatschen versucht und langsam an den permanenten Fehlprognosen ihres Metrologen-Teams zu verzweifeln beginnt.

Wir besteigen den halbgefüllten Bus und warten auf den Fahrer, der sich nach getaner Verladearbeit noch eine Zigarette gönnt. Ich schaue aus dem Fenster und betrachte mich erneut als Glückskind, als unsere Zwillingsmutter ausgerechnet Nachbarbus 44 besteigt. So darf ich nun diesen prächtigen Anblick nochmals genießen, diesmal sogar aus der Vogelperspektive meines erhöhten Sitzes. Vergesse dabei einzuschlafen und erkläre stattdessen meiner mich beobachtenden Frau meine sichtliche Rührung:

„Die hat wirklich echt nette Kinder!“

„Du meinst echt nette Titten, da stehst du doch drauf!“

Nun, es gibt verschiedene Varianten einer Antwort, sieht man sich als Ehemann mit einer solchen Bemerkung seiner Frau konfrontiert. Ein einfaches „Ja!“ wäre zum Beispiel eine durchaus angemessene Reaktion. In ihrer wahrheitsgemäßen Prägnanz und Klarheit nimmt man so seiner kritischen Partnerin jeglichen Wind aus ihren drallen Segeln und geht eindeutig als Punktsieger in einer weiteren Runde des nicht endend wollenden Verwirrspiels namens Ehe hervor. Dies setzt jedoch ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein und einen absolvierten Grundwehrdienst voraus.

Eine weitere Möglichkeit kann aber auch in dem gespielt empörten Rettungsversuch liegen, indem man seiner Frau versichert, eben nicht auf große Brüste zu stehen, wie anders hätte man sich sonst dazu entschließen können, sie zu heiraten. Anschließend behauptet man, dass diese seiner Ansicht nach ganz offensichtlich künstliche Brust-Vergrößerung auf eine Persönlichkeitsstörung hindeute, die unser tiefstes Mitleid bedürfe, allein schon wegen den damit verbundenen erheblichen Behandlungskosten und den schlimmen Rückenbeschwerden, unter denen die Ärmste seid der OP zu leiden hätte. Allerdings kommt man sich hierbei so dämlich vor, als hätte man gerade vor laufenden Kameras die 50 Euro-Frage bei Günter Jauch versemmelt und muss sich auf weitere, noch schärfere Bemerkungen seiner Ehefrau einstellen. Das kann ich aus eigener Erfahrung heraus versichern.

Die ersten Busse beginnen mit der Invasion der Sonnenhungrigen. Unser Fahrer checkt nochmals seine Gästeliste, während ich plötzlich knarrende Wortfetzen aus den Buslautsprechern vernehme:

„…allo, eins eins…krrrrrr…wohl kaputt…egal, geht auch ohne…“

Eine uniformierte dickliche Frau mit fettigen Haaren und Harry Potter Brille legt das Mikro bei Seite und brüllt mit heller Stimme durch den Mittelgang, dass es nun endlich losgehe. Sie begrüßt uns nochmals im Namen des Reiseveranstalters und stellt sicher, dass alle die schriftliche Vorladung zum morgigen Begrüßungs-Treffen erhalten haben, in dem es Wichtiges zu Land und Leuten zu erfahren gäbe. Sie sei die für uns verantwortliche Reiseleitung und hieße Detlef Donats. Wie heißt die?? Ich muss mich verhört haben, schaue irritiert zu meiner Frau.

Detlef warnt noch schnell vor den zahlreichen Langfingern, die es auf unsere Reiseunterlagen abgesehen hätten, welche einzig im anzumietenden Zimmertresor sicher lägen, verspricht uns einen unvergesslichen Urlaub und fällt durch die sich schließende Tür ins Freie. Der Bus setzt sich in Bewegung, während wir uns merklich verwirrt fragen, ob die eben erlebte Erscheinung eine erste hitzebedingte Fata Morgana gewesen sei.

Wir verlassen das Flughafengelände über eine stark befahrene Hauptstraße. Die Route führt uns zunächst durch ein großes Gewerbegebiet mit riesigen Einkaufscentren und bekannten amerikanischen Schnellrestaurants. IKEA sehe ich leider nicht, die sind sicher am anderen Stadtrand. Das Ortsausgangschild der Inselhauptstadt passiert, sind es nur noch 12 Kilometer bis nach Puerto del Carmen, unserem Zielort.

Der erste Landschaftseindruck ist ernüchternd und fremdartig. Die unbebauten dunklen und von Lavageröll zerfurchten Ebenen sind frei jeglicher Vegetation, so auch die mittelhohen Hügel und skurrilen Gebirgszüge, die die Sonnenstrahlen in einem grau rötlichen Zwielicht reflektieren. Oder anders ausgedrückt: es deutet hier  alles darauf hin, dass der letzte Vulkanausbruch verheerende Ausmaße hatte. Hätte im Flieger doch besser mein Handy ausschalten sollen, denke ich, als ich kurzzeitig befürchte, auf dem Mond gelandet zu sein.

Doch der sich dann ergebende Ausblick auf die Quelle alles Seins ist schier atemberaubend, als wir etwas an Höhe gewinnen. So schauen wir paralysiert auf unser wahres Reiseziel, jener unendlich schönen und tiefblauen, die Welt umarmende Hinterlassenschaft Gottes, deren Anblick uns ehrfürchtig verstummen lässt.

Der Reisebus findet ersten Halt an einem großen 5-Sterne Domizil direkt am Meer. Auf dem hoteleigenem eingezäunten Strand liegen die offensichtlich etwas betuchteren Gäste auf ihren wind- und sonnengeschützten Liegen und lassen sich nur kurz von uns stören. Es folgen noch etwa vier bis fünf Stopps und je mehr wir uns dem Zentrum Puerto Del Carmens nähern, verdichtet sich die Anzahl großer Hotelgebäude und Appartementanlagen, die auf deren Qualitätsstand hinweisende Sterneanzahl hingegen nimmt ab. Sie säumen riesige, oft hundert Meter tiefe dunkle Sandstrände, die mit Menschenmassen besiedelt sind. Stadteinwärts staut sich zunehmend die Lawine lärmender Autos und Bussen. Entlang der parallel zu den Stränden verlaufenden Hauptstraße drängen sich über Kilometer zahlreiche Bars und Restaurants, Supermärkte, Spielhöllen, Autovermietungen und auffällig viele chinesische Ramschläden.

Das Zentrum selber beschert uns den längsten aller Strände mit rückseitigem Blick auf eine terrassenartig angelegte Vergnügungsmeile, auf deren mehrstöckigen Ebenen das Leben zu toben scheint. Dem Strand schließt sich nahtlos ein gewaltiges in grauen Beton gegossenes Warenhaus mit integriertem Hotel an. Ich versuche zunächst, all dem  wertfrei zu begegnen. „Ganz schön was los hier…“ sage ich zu meiner Frau und beginne zu ahnen, dass ein eher ruhig beschaulicher Badeurlaub hier kaum zu erwarten ist.

Mittlerweile sind wir die letzten Fahrgäste nebst einem deutsch polnischen Ehepaar mit erwachsener Tochter. Der Bus biegt in eine durch eine Baustelle verengte Straße ab, welche die Fußgänger zu waghalsigen Seitenwechseln zwingt und den dort anliegenden Ramschbudenbesitzer enorme Umsatzeinbrüche beschert. Sie mündet in einen großen Verkehrskreisel mit Blick auf ein zweites, noch viel größeres Einkaufscenter mit offen gehaltenen Spiele- und Kletterwelten, Hüpfburgen sowie Bungee-Trampolinanlagen. Dagegen ist die IKEA-Kinderwelt in Köln-Rodenkirchen der totale Dreck.

„Guck mal, McDonalds!!“ skandiert Jonah erleichtert. Darf natürlich nicht fehlen. Die gegenüber liegende Burger King Filiale sorgt in ähnlich beeindruckender Größe für das nötige Gleichgewicht, bekannter Massen teilen sich die Geschmäcker der Fastfood-Gemeinde in jene zwei verfeindeten Läger. Aber hier ist für alles gesorgt, denke ich, als sich der Reisebus einen ziemlich steilen Hügel hochquält.

Besonders dieser Streckenabschnitt ist mir durchaus bekannt, da ich den Hauptstraßenverlauf durch Puerto del Carmen in den letzten Tagen mehrfach mittels Google Street View auf meinem Notebook virtuell befahren hatte. Möglicherweise wurden die Kamerafahrten der unermüdlichen Straßen-Erfasser an einem sonnigen Heiligabend Morgen durchgeführt, vermittelten sie mir doch einen ganz anderen Eindruck als die jetzige Realität. Darin sah ich ein hübsches in weiß getünchten Touristenstädtchen mit wenig Autoverkehr und spazierenden Liebespärchen mit verklärt verpixelten Gesichtern. Während diverse Hotelbewertungen den untrainierten Urlauber eindringlich vor der beschwerlichen Hotelberg-Expedition warnen, täuschte mir indes das Google-Panorama einen harmonisch flachen Verlauf der Straße vor. Auch die von mir vermessenen 600 Meter zum Hauptstrand erscheinen mir jetzt angesichts der gut 10 minütigen Fahrt von Strand zum Hotel als auch nicht wirklich realistisch, das kann aber auch am Verkehrsstau gelegen haben.

Die virtuellen Computerwelten des Internets taugen so viel wie Wetterprognosen, lassen gerade sie doch oft die Welt in einem verzerrten Bild erscheinen, das mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun hat. Zumindest aber verleiten sie uns dazu, in ihren Abbildungen und Beschreibungen das zu sehen, was wir in ihnen sehen wollen.

In wieweit die zumeist guten Hotelbewertungen im Internet eine ähnlich beschönigende Absicht verfolgen, werden die nächsten Minuten offenbaren. Angesichts dieser erst gewonnenen Eindrücke schraube ich jedenfalls meine bislang hohe Erwartungshaltung trotz einer 80 prozentigen Empfehlungsquote unserer Urlaubsherberge merklich zurück.

Diese Form von Zweckpessimismus kann einem in Einzelfällen als durchaus sinnvoll erscheinen. Jene weitverbreitete Lebenshaltung schützt jedoch nur selten vor Enttäuschungen. Denn sie lenkt lediglich unseren Fokus auf die von uns befürchteten Missstände, Rückschläge oder Katastrophen, die wir so wie magisch an uns zu ziehen beginnen und jetzt auch mir die im strahlenden weiß gestrichenen spanischen Häuschen meiner hiesigen Realität grau und verriegelt erscheinen lassen. Viele Psychotherapeuten oder Coaches sehen gerade darin ihre Existenzberechtigung. Besonders jene, die die Meinung vertreten, das ganze funktioniere umgekehrt genauso gut, indem das Gesetz der Resonanz der eigenen Gedanken und Vorstellungen zum dann tatsächlich Erlebten im Glauben an das Gute anzuwenden sei und sich so die verschlossenen Türen zu öffnen beginnen. So einfach erscheint doch die selbstgewählte Existenz in einer glücklichen oder unglücklichen Realität, man muss sich nur entscheiden.

Praktisch ist dies etwa zu beobachten an den langen Schlangen vor den Kassen einer örtlichen ALDI-Filiale. Während sich der grundoptimistisch Eine kindlich über die supergünstig neue Heckenschere freut und als letzt bezahlender Kunde der Kassiererin eine schöne Mittagspause wünscht, ärgert sich sein pessimistischer Hintermann maßlos über das immer ihn ereilende Schicksal, nach so langer Wartezeit nun die nächste Kasse benutzen zu müssen, um Stunden später wieder an selbiger sein Geld zurück zu fordern, weil ausgerechnet er die einzige nicht funktionierende Schneidemaschine erwischt hat.

Dieser kleine Exkurs sollte ausreichen um selbständig zu beurteilen, in welcher dieser wegweisenden Grundhaltungen meine Frau das spartanisch wirkende Hotelfoyer mit der folgenden Bemerkung betritt:

„Hoffentlich funktioniert die Dusche!“

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INTENSIV…

Für meinen Vater, gestorben am 01. Oktober 2013

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

.
Rainer Maria Rilke

„Intensiv…“

…ist es hier auf dieser Station. Im Eingangsbereich sieht es aus wie im Cockpit von Raumschiff Enterprise, überall Überwachungsmonitore im Blicke der in blauen Raumanzügen gehüllten Pfleger.

Es ist nicht so ruhig wie auf der Krebsstation meines Bruders. Überall piepen und klingeln die Geräte. An den Decken hängen Leuchttafeln mit den Patientennummern, deren Daten sich in offensichtlich kritischen Bereichen befinden. Mein Vater hat die Nummer  B0 15.

Ich betrachte die Werte seines geschundenen Körpers, die Herzfrequenz, den Blutdruck, die Körpertemperatur. Die anderen Kurven und Zahlen verstehe ich nicht, muss ich auch nicht. Entscheidend ist, dass eine Berührung seiner Hände oder seiner Stirn die Werte irgendwie beeinflussen, sichtbar.

Er hat kein Bewusstsein mehr, könnte man meinen. Oh doch, er ist da.

Wir sitzen den ganzen Tag an seinem Bett, ich höre seinen schweren Atem. Schmerzen hat er keine, da vertraue ich den Ärzten. Er zeigt
keinerlei Regung, die Augen bleiben verschlossen. Nur wenn die Pfleger nach ihm schauen, öffnen sie ihm sanft die Lider und durchleuchten seine grau blassen Pupillen. Vielleicht sehen seine Augen durch uns hindurch in das Licht des Jenseits.

Im Bett neben meinem Vater liegt ein älterer Mann, ich schätze ihn auf Ende Sechzig. Er ist aus dem Koma erwacht und quält sich in unsagbaren Schmerzen, reißt sich ständig die Schläuche vom Leib. Dann kommen die Pfleger und beruhigen ihn, geben ihm wieder Methanyl. Er leidet unter Morphium-Entzug. Sein Stöhnen und Röcheln ist schier unerträglich.

Mein Vater hingegen ist ganz ruhig. Was für ein Segen. Friedlich ist sein Anblick nicht. Der geöffnete Mund lässt ihn flehentlich
erscheinen.

Papa war ein großer Geschichtenerzähler. Seine letzte erzählte er mir vorgestern Abend, wir tranken unser letztes gemeinsames Glas Rotwein. Die von einem kleinen Affen, der wäre aus dem Zoo ausgebügst und hätte den ganzen Tag am Straßenrand gesessen, um  interessiert den Verkehr zu beobachten. Großes Chaos habe er angerichtet, nur dadurch,dass er da hockte. Ich fragte ihn, ob man das Äffchen wieder eingefangen hätte. „Oh Nein!“ sagte er, in unserem Garten hielte er sich jetzt versteckt.

Was für ein wunderbarer Unterschlupf für den kleinen Chaos-Affen, der Garten meines Vaters.

„Guten Nacht Jung’…“ waren seine letzen Worte an mich.

Und die an meine Mutter waren ein Liebesgeständnis, als sie sich beide ins Bett legten.

Immer kindlicher wurde er in den letzen Wochen. Er hörte auf zu Lesen, schreiben konnte er schon seit längerem nicht mehr. Stundenlang saß er auf dem Balkon und beobachtete die Wolken. Er war in Kriegszeiten Schäfer und vermochte es, das Wetter zu prognostizieren. In aller Regel sehr treffsicher. Er hat mich aber nie in die Geheimnisse seiner Wolkenbeobachtungen eingeweiht.

Gottgläubig war er, zutiefst und kindlich. Hunderte von Gebeten und Meditationen schrieb er in seinen letzten Jahren, hielt wöchentliche Friedensgebets-Treffen in der Kapelle ab. Manchmal hatte ich den Eindruck, er betete fast verzweifelt.

Ich selber habe ihn nie begleitet in seine Kapelle, mir erschien dies alles irgendwie bigott.

Wie mag es mir jetzt erscheinen, wenn ich seine Worte wieder lesen werde, seine Gebete und Meditationen. Oder seine Lebenserinnerungen, die er über seine Kindheit, Schüler- und Studienzeit niederschrieb und damit in diversen Leserkreisen für Furore sorgte.

Darum drehten sich seine Gedanken und immer währenden Erzählungen. Die eines schmächtigen kleinen Jungen in den Anfängen des Krieges als Jüngster von 9 weiteren Geschwistern. Drei von ihnen verstarben im Kindesalter, sein geliebter großer Bruder blieb im Krieg verschollen. Die Eltern verstarben an ihrem Kummer.

Er war letztlich der Intellektuelle, studierte als Einziger mit Bravour und lehnte eine Universitätslaufbahn ab, dafür war er zu
bescheiden. Seine Professoren bewunderten ihn, seine Abschlussarbeitüber Kafka ist bis heute eine „Legende“. Ich habe sie jedoch nie
gelesen.

Ja, er war bis zum Schluss ein sehr ängstlicher Mensch, nie der starke Vater. Immer nur auf unser Wohl bedacht, voller Sorge, jegliches
Risiko ablehnend.

Aber als Lehrer gefürchtet und zugleich geliebt. Aus den Erzählungen seiner Schüler erkannte ich nie meinen Vater, es erschien mir gerade so, als redeten sie von jemand anderem.

Das war seine eigentliche Berufung, und doch blieb er mir auch hier immer geheimnisvoll. Er wollte nicht, dass ich sein Schüler wurde. Und er behandelte mich nie als den seinen, auch wenn ich mir das oft gewünscht hatte.

Er ließ mich ziehen, verjagte mir meine jugendlichen Flausen nicht, belehrte mich nie über meine durchschnittlichen schulischen
Leistungen, gab mir nur wenig Ratschläge in meiner Suche und auf meinem merkwürdigen Lebensweg. Trug all meine Eskapaden ohne Kritik.

Ganz im Gegensatz zu meinen Geschwistern, die er mit strenger Hand erzog.

Wie sehr hatte ich mir doch einen starken Vater gewünscht, doch das war er nie für mich. So glaubte ich es immer in meinen Lebenskrisen, und ich machte ihn mit dafür verantwortlich.

In Wahrheit aber gab er mir schlichtweg seine Liebe und das größte, was man seinem Kind entgegen bringen kann:

seinen tiefen Glauben an mich, und sein bedingungsloses Vertrauen. Und so war ich sein Vertrauter in seinen Lebenskrisen.

Weil er sich in mir sah. Er bewunderte mich.

Und ich bewunderte ihn. Meinen geheimnisvollen Papa…

Es wird jetzt Zeit, mein geliebter Papa. Morgen komme ich wieder und setze mich neben dich. Damit du keine Angst haben brauchst. Warum solltest du dich fürchten vor all den Wundern, die dich erwarten werden..

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